Vor den Wahlen im Kosovo eskaliert im Grenzgebiet zu Mazedonien die Gewalt - Militäraktion gegen albanische Milizen
Brodec/Skopje - Schweigend steigen die Männer den steilen Pfad ins Dorf hinauf, langsam setzen sie einen Fuß vor den anderen, denn die spitzen Kopfsteinpflaster sind regennass. Erst waren es ein paar Dutzend Männer, doch es werden immer mehr, Hunderte sind gekommen. Kalter Herbstnebel liegt über Brodec, einem winzigen Albanerdorf südlich des Sarplanina-Gebirges. Hinter dem 2500 Meter hohen Kobilica, an den sich Brodec drängt, liegt das Kosovo.
Die Männer wollen Ferrat und Fisnik die letzte Ehre erweisen und ihren Familien Beileid ausdrücken, aus allen Dörfern sind sie über die schmale Bergstraße gekommen, die hier endet - und mit ihr Mazedonien. Doch seit wenigen Tagen ist Brodec der Mittelpunkt eines Landes, das sich auf dem Weg nach Europa wähnte und nun in den Schatten des Streits über die Zukunft des Kosovo zu geraten droht. Am 7. November um kurz nach sechs Uhr morgens griffen mazedonische Sondereinheiten das Dorf an. 500 Beamte sollen in und um das Dorf im Einsatz gewesen sein. Was genau passierte, darüber gehen die Angaben der Regierung in Skopje und die der Menschen in Brodec weit auseinander. Fest aber steht, dass sechs Männer bei dem Schusswechsel ums Leben kamen, unter ihnen Ferrat und Fisnik, 20 und 21 Jahre alt. 13 Personen wurden verhaftet.
"Eine sehr erfolgreiche Aktion", sagt Jana Jankuloska. "Es gab keine Kollateralschäden", fügt die Innenministerin hinzu, doch Details zum Einsatz gibt sie nicht. Stattdessen zählt Jankuloska die in Brodec sichergestellten Waffen auf: Raketenwerfer, automatische Gewehre, Granaten, Flugabwehrraketen, Anti-Panzer- und -Personen-Minen. Angeblich genug Ausrüstung für 650 Kämpfer. "Wir hatten Hinweise, dass diese Gruppe die Stabilität Mazedoniens ernsthaft bedrohte. Darum mussten wir zugreifen", erklärt die 32-jährige Ministerin der konservativen mazedonischen Regierungspartei. Die beiden getöteten jungen Männer aus Brodec seien an der Logistik für die Gruppe beteiligt und in die Schießerei verwickelt gewesen. "Man kann hier auch von Terroristen sprechen."
Mit Tränen in den Augen wartet einer der albanischen Männer vor der Moschee in Brodec auf den Trauerzug. Er will seinen Namen nicht nennen, nur sein Alter, 42 Jahre sei er und habe lange in der Schweiz gearbeitet. "Die wollen uns Albaner kaputt machen", sagt er und zeigt auf die Einschusslöcher am Tempel. Fensterscheiben sind zersplittert, roter Putz bröckelt herunter. Eine kalte Brise wirbelt Aschefetzen durch die Luft. "Die Kinder aus diesem Dorf sind doch keine Terroristen!", ruft er. "Das hängt alles nur mit dem Kosovo zusammen. Die Mazedonier und die Serben arbeiten zusammen. Sie wollen Stimmung gegen die Unabhängigkeit machen. Sie wollen, dass die internationale Gemeinschaft denkt: Die Albaner sind ein Risiko." Neben ihm steht ein alter Mann, sein Haus ist durch den Beschuss aus den umliegenden Bergen bis auf die Grundmauern niedergebrannt. In vier Wochen läuft die letzte Frist ab, welche die Vereinten Nationen Serben und Albanern gegeben haben, um sich auf den künftigen Status des Kosovo zu einigen. Niemand setzt mehr darauf. Und während sich Belgrad und Pristina mit unvereinbaren Forderungen gegenüberstehen, schwappt der Konflikt bereits über die Grenzen Serbiens nach Bosnien-Herzegowina. Die bosnische Serbenrepublik droht mit einer Abspaltung aus dem fragilen Staatenbund und einer Rückkehr zu Belgrad, sollte das Kosovo den Serben "weggenommen" werden.
Parallel dazu mehren sich bewaffnete Zwischenfälle in Mazedonien und im südlichen Serbien. Die Männer, die sich in Brodec verschanzt hatten, waren aus einem Gefängnis im Kosovo geflohen, wo am kommenden Samstag Wahlen sind. Gerüchte machen die Runde, der Clan des Albanerführers und kosovarischen Ex-Premiers Ramush Haradinaj stecke dahinter: Die Umfragen für seine Partei sind nicht gut, Haradinaj wolle deshalb die Stimmung anheizen. Wenn es denn wahr ist, so hätte Haradinaj zumindest in Mazedonien sein Ziel erreicht. Ali Ahmeti, ehemaliger UCK-Kämpfer und Chef der wichtigsten Albanerpartei DUI, ist aufgebracht. "Die Botschaft von Brodec ist klar", sagt er. "Wir Albaner in Mazedonien sollen den Mund halten." Er wolle Fortschritt sehen. Und den gebe es seit Antritt der konservativen Regierung des mazedonischen Premiers Nikola Gruevski nicht mehr, sondern nur noch Provokationen der Albaner.
Auch Semra Jakupi will Fortschritt. Die 19-Jährige studiert Kommunikationswissenschaften an der Universität von Tetovo, der "Hauptstadt" der Albaner in Mazedonien. Seit Brodec, das 25 Autominuten von hier entfernt liegt, geht sie nicht mehr bei Dunkelheit auf die Straße. "Ich habe Angst, physisch und psychisch", sagt die Albanerin. "Wir haben so viel erreicht seit 2001. Ich will in die EU, ich will kein Großalbanien", erklärt Semra mit fester Stimme und fügt hinzu: "Was haben wir in Mazedonien mit dem Kosovo zu tun?"